Kolpingsfamilie Rulle thematisiert Missbrauch in der katholischen Kirche
Quelle:
Neue Osnabrücker Zeitung – Stadt Osnabrück 25. Mai 2019
Von Jessica von den Benken
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Wer
Antworten erwartet hatte, der wurde enttäuscht. Wenn es um Missbrauch
in der katholischen Kirche geht, sind zu viele Fragen seit Jahrzehnten
offen. Das wurde jetzt beim Diskussionsabend der Ruller Kolpingsfamilie
einmal mehr deutlich.
Die Kolpingsfamilie
Rulle ist dafür bekannt, dass sie den Finger in die Wunde legt. Nicht
schweigt, wo anderen die Worte fehlen, aktiv wird, wenn andere
erstarren. Dies bewies einmal mehr die Veranstaltung am vergangenen
Donnerstagabend, die den Missbrauch in der katholischen Kirche mit Blick
auf Opfer, Täter und Strukturen vor etwa 150 Gästen thematisierte.
Johannes Tewes und Markus Seiters von der Ruller Kolpingsfamilie
diskutierten über mehr als 90 Minuten gemeinsam mit der NOZ-Redakteurin
Stefanie Witte, Martina Kreidler-Kros vom Bistum Osnabrück, der
psychologischen Psychotherapeutin Adelheid Massmann und mit Thilo
Wilhelm, Regens des Priesterseminars in Osnabrück.
Mit
einer Chronologie, die den Zeitverlauf des Bekanntwerdens von
Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche darstellte, zeigten die
Moderatoren direkt zu Beginn des Abends, welches Ausmaß Missbrauch in
der Institution Kirche seit Jahrzehnten hat. Bereits in den
1990er-Jahren seien die ersten Missbrauchsfälle bekannt geworden, die
Taten systematisch vertuscht und die Täter versetzt worden, so die
Moderatoren. Mit Blick auf den Zeitstrahl war klar: Es wird schon lange
geredet. Doch wann wird gehandelt? 2010 wurde die Aufklärungswelle in
Gang gesetzt. „Und in der Zeit ist nicht viel passiert. Warum soll dann
jetzt etwas passieren“, fragte Seiters.
„Ich
bin von diesem System beschämt. Das war damals alles schnell wieder vom
Tisch, es ging in erster Linie darum, Dinge abzuwehren“, sagte
Kreidler-Kos rückblickend. Heute habe sich die Herangehensweise an das
Thema jedoch qualitativ verändert. Man sei dabei, etwas zu kapieren und
die Konfrontation und das Aushalten zu lernen. Sie forderte, die
Machtstrukturen der Kirche, die den Missbrauch begünstigen, an der
Wurzel anzupacken. Doch von der zündenden Idee sei man noch weit
entfernt. Auch sprach sie von einer Sicht der Kirche auf Sexualität, die
verquer sei und sich vom Leben abkoppele. Dies sei ein Aspekt des
Übels, den man angehen müsse.
Rechenschaft
Wilhelm
sprach von einer Last, die man trage, seitdem die Missbrauchsfälle
bekannt seien. „Wir Priester haben eine starke Identifikation
untereinander. Das Gefühl zu haben, zu dieser Gruppe zu gehören, hat
mich stark verändert“, erklärte er. Jetzt sei es an an der Zeit, nicht
immer nur in höchster Not zu reagieren, sondern zu handeln. Fragen nach
den Vorfällen selbst, der nicht vollständigen Dokumentation und der
Vertuschung seien zu klären. „Das sind wir den Betroffenen schuldig“, so
Wilhelm. Transparenz und Rechenschaft seien wichtige Begriffe, und der
Umgang mit dem Machtgefälle in der katholischen Kirche müsse überdacht
werden, um kein Einfallstor für den Missbrauch zu sein.
Einen
Einblick in die Gefühlswelt der Opfer gab Massmann an diesem Abend.
„Wir reden hier über schwere Traumata“, sagte sie. Eine Verarbeitung von
Missbrauch, der in einem geschützten Raum wie der Kirche stattgefunden
habe, löse häufig eine dissoziative Abspaltung aus. „Die Opfer schützen
sich innerlich, haben das Geschehene aber nicht wirklich verarbeitet.“Es
sei auch lange niemand da gewesen, der den Opfern Gehör geschenkt habe.
Das habe sich nun endlich geändert. Doch Schuldeingeständnisse und
Reue, die die Opfer erwarten, seien ausgeblieben.
Witte
sagte auf die Frage, wie sie die Stimmung in Merzen empfunden habe, wo
Jahrzehntelang ein Gemeindepfarrer Kinder missbraucht habe: „Das war der
beklemmendste Termin, den ich je erlebt habe. Die Gemeinde stand unter
Schock. Es war, als wäre eine Bombe explodiert.“Dominiert habe dort die
Fassungslosigkeit, sagte Witte.
Zum
Abschluss des Abends definierten die Diskussionsteilnehmer
„Hausaufgaben“für die katholischen Bischöfe. Wie das Ganze außerhalb der
Kirche ankomme, sei zu überlegen, so Witte. „Innerhalb mag alles
organisiert sein, aber wie soll nach außen signalisiert werden, dass das
Thema verstanden ist?“, fragt sie weiter. Massmann dazu: „Die Bischöfe
sollten sich besinnen, woher die Machtstrukturen kommen und wie sie sich
mit der heutigen Zeit vereinbaren lassen.“
Dass
es an diesem Abend keine Antworten auf alle Fragen gab, bedauerten
einige Gäste. So sagte Robert Gilderhaus: „Ich finde es mutig, das Thema
Missbrauch aufzugreifen und ihm eine Stimme zu geben. Nur ist leider
Gottes noch viel zu tun, bis es Antworten geben wird.“